Wenn der Truthahn von „Thanks Giving“ wüsste, was würde er tun?
Am 26. und 27. September 2016 findet in Nürnberg die „AM Ceramics“ statt. Die Veranstaltung bietet Fachvorträge zu allen zentralen Themen rund um die additive Fertigung technischer Keramik. Einer der Vortragenden tanzt dabei maßgeblich aus der Reihe. Sein Wissen hat weder mit Keramik noch mit 3D-Druck zu tun. Sein Fachgebiet ist das Innovationsmanagement. Warum Wolfgang Römer, Dozent an der FH St. Pölten, dennoch viel zu dem Thema Additive Fertigung von Keramik zu sagen hat, erfahren Sie im folgenden Interview.
Herr Römer, Sie werden am 26. September bei der AM Ceramics einen Vortrag zum Thema Innovationsmanagement halten. Warum interessiert Sie das Thema der Additiven Fertigung?
Ich finde es spannend in einem Bereich zu arbeiten, wo es viele Möglichkeiten für Innovation gibt, die aber von der Industrie noch nicht wahrgenommen wurden. Die Einsatzmöglichkeiten von AM Systemen im Keramikbereich sind noch nicht einmal ansatzweise entdeckt und bergen viel Potenzial in sich. Und ich glaube auch, dass es einen anderen Blickwinkel benötigt, um dieses zu heben.
Unternehmen stehen heute unter dem Druck immer wieder Möglichkeiten zu identifizieren, um neue Absatzmöglichkeiten für ihre Produkte zu erschließen. Dies passiert zumeist auf ihren angestammten Märkten wo die Kundenbedürfnisse bekannt sind. Dafür werden bestehende Produkte weiterentwickelt und adaptiert. Gängige Marktmechanismen werden dabei nicht mehr hinterfragt, es wird stets nur im eigenen Dunstkreis nach Lösungen und Möglichkeiten gesucht – und dadurch entstehen Scheuklappen, die ein branchenfremdes Unternehmen nicht hat. Es entstehen keine radikalen Innovationen.
Das Geschäftsmodell mit den „kleinen“ Innovationen funktioniert sehr gut – warum sollten Unternehmen Interesse an der Schaffung von radikalen Innovationen haben?
Lassen Sie mich das anhand eines Beispiels aus der Vergangenheit verdeutlichen. Wenn ich ein Besitzer einer Pferdekutsche bin und ich möchte mein Geschäft ankurbeln, dann kann ich mir eine größere Kutsche kaufen und mein Pferdegespann von vier auf sechs Pferden erhöhen. Die Folge davon ist, dass ich mehr Güter in kürzerer Zeit transportieren kann – das ist sehr gut, bis zu dem Zeitpunkt als Benz den Motor entwickelt hat. Dieses Beispiel ist kein Sonderfall – denken Sie an AirBnB oder iTunes – auch hier haben plötzlich Player eine wichtige Marktposition erlangt, die ursprünglich keinen Bezug zu dem Markt hatten, auf dem sie heute erfolgreich agieren. Wenn ich diese Beispiele bringe, fällt mir auch immer wieder die Geschichte vom Truthahn ein.
Jetzt bin ich gespannt. Was hat ein Truthahn mit dem Thema Innovation zu tun?
Der Truthahn ist von Natur aus ein sehr scheues und misstrauisches Tier. Er muss sich erst an die Präsenz des Menschen gewöhnen. Der Mensch erlangt das Vertrauen des Tieres erst durch dessen tägliche Fütterung. Nach und nach fasst das Tier Vertrauen und wird gleichzeitig konditioniert. Es weiß: wenn sich die Tür zu seinem Stall öffnet, kommt der Bauer und füttert ihn. Die Folge ist, dass es bereitwillig Richtung Tür marschiert, sobald es diese knarren hört. Das einzige Problem das der Truthahn hat ist: er kennt „Thanks Giving“ nicht.
Überträgt man diesen Umstand auf die Unternehmenspraxis, so zeigt sich das Unternehmen zwar die Vorahnung haben, dass sich etwas auf ihren Markt radikal verändern könnte, aber sie nicht wissen wie oder ob sie darauf reagieren sollen. Dies geschieht vor allem dann, wenn das Unternehmen noch keinen Druck von außen spürt.
Bill Gates sprach 1995 im Rahmen einer Windows-Präsentation im Dachstuhl des Wiener Stephansdoms über das Internet. Zuerst sah er das Internet als Modeerscheinung, später hob er dessen, Bedeutung und Potenzial hervor, … Microsoft ist zwar immer noch ein wichtiger Branchenplayer, aber ihre einstige Stellung als Innovationsleader hat das Unternehmen verloren.
Wenn man den Einstieg zu einem bestimmten Zeitpunkt versäumt, wird aus einer Chance eine Bedrohung. Die darauffolgenden Reaktionen kennen wir beispielsweise aus der Musik- und Filmindustrie. Unternehmen hinken der Entwicklung hinterher und versuchen dann Mauern aufzubauen, um sich gegen die Bedrohungen zu schützen.
Was würden Sie Unternehmen raten, damit diese nicht das Schicksal von Truthähnen erleiden?
Manchmal ist es notwendig, an den gängigen Strukturen zu rütteln. Es heißt offen zu bleiben oder zu werden. Es erfordert Umsicht und es erfordert Freigeister die sich die Frage stellen: „Ist das wirklich so?“.
Hinterfragen wir unser Basismaterial oder Basisverfahren? Machen wir uns Gedanken über Funktionalitäten die möglich wären, würden wir alternative Materialien und Verfahren einsetzen? Stellen wir Überlegungen an, welche Bedürfnisse Kunden haben können, die nicht artikuliert werden, da sie den Kunden nicht bewusst sind? Diese nicht artikulierten Bedürfnisse bieten neue Chancen, sind das Ziel einer Innovation, sind radikale Innovationen. Hier ist vor allem auch die Reaktion von Vorgesetzten und Kollegen ein zentraler Punkt, wenn unkonventionelle Ideen, die häufig als verrückt bezeichnet werden, geäußert werden
Inwiefern spielen die Reaktionen von Kollegen und Vorgesetzten dabei eine Rolle?
Wenn wir visionäre Gedanken haben, fehlen uns oft genug zu Beginn die Worte, um diese zu beschreiben. Und häufig genug zerstören zu früh vorgebrachte Gegenargumente eine aufkeimende Idee. Die Bereitschaft zwei, drei Schritte weiterzugehen fehlt. Ergebnisorientiertes Innovationsmanagement ist der Alltag und steht dabei dem wahren Charakter des Innovationsmanagement diametral entgegen.
Es braucht Führungskräfte die Mut zur Ergebnisoffenheit haben und eine visionäre Unternehmenskultur fördern. Wir wissen, dass die mentalen Modelle der Führungskräfte einen maßgeblichen Einfluss auf die Ausgestaltung der Kultur im Unternehmen haben. Dies hängt aber auch davon ab, ob die Vision und das Kulturverständnis der Führungskraft nur ein reines Lippenbekenntnis ist, oder aus der eigenen Lebensphilosophie entspringt. Ein Beispiel dafür ist etwa der „theoretische Freiraum“ den ein Unternehmen seinen Mitarbeitern für neue Technologien gewährt.
Was verstehen Sie unter dem Begriff „theoretischer Freiraum“?
Theoretisch deshalb, weil am Ende immer etwas fürs Unternehmen herausspringen soll, ein positives Ergebnis. Ohne die Möglichkeit zu experimentieren ist es jedoch nicht möglich den tatsächlichen Mehrwert einer neuen Technologie zu erkennen und sein Potenzial zu entdecken.
Freiraum steht in Verbindung mit Wollen und Können. Freiraum ist dann vorhanden, wenn ich die Überlegung anstellen kann: wie weit muss ich gehen, um dorthin zu kommen, wohin ich will? Wir nähern uns damit dem Begriff „Freiheit“. Der österreichische Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek meinte dazu: „Der Zweck der Freiheit ist, die Möglichkeit von Entwicklungen zu schaffen, die wir nicht voraussagen können, bedeutet, dass wir nie wissen werden, was wir durch eine Beschränkung der Freiheit verlieren.“ Freiheit und Freiraum setzen hohe Anforderungen an die Persönlichkeit. Selbstbestimmung und Selbstverantwortung müssen vorausgesetzt werden. Freiraum muss aktiv genutzt werden.
Mit welchen Inhalten dürfen die Besucher der AM Ceramics von Ihrer Seite her rechnen?
Im meinen Vortrag geht es darum, tradierte Denkmuster aufzubrechen und den Umgang mit „intelligenten Fehlern“ neu zu überdenken. Auch die Themen Freiraum und Raum für Selbstverantwortung werden thematisiert. Bei der Umsetzung dieser Themen stehen Unternehmen nicht vor einer 08/15-Herausforderung – das ist mir klar. Aber in Nürnberg werden wir damit starten gemeinsam an den gängigen Denkmustern zu rütteln.
Kurzvita Wolfgang Römer:
Wolfgang Römer ist Professor an der Fachhochschule St. Pölten im Department Medien & Wirtschaft. Seine Schwerpunkte sind Strategisches Management und Innovationsmanagement. Im Rahmen seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit liegt sein Fokus auf dem Neuen, welche Voraussetzungen sind notwendig, um zu einer Innovation zu kommen. Vor seiner Tätigkeit an der Fachhochschule St. Pölten war er sechs Jahre freier Mitarbeiter im ORF.